„Liebe auf den ersten Blick“ – Ludwig Greves Hommage auf Hannah Arendt
Geflüchtete, Kosmopolitin, Intellektuelle, politische Theoretikerin, Textgelehrte – die 1933 aus Deutschland emigrierte Hannah Arendt (1906–1975) ist in die Reihe der einflussreichsten politischen Denker*innen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Ihre kontrovers diskutierten Reflexionen zu zentralen Themen wie menschlicher Freiheit, den Ursprüngen politischer Gewalt, Antisemitismus und Totalitarismus regen auch heute noch zur Lust am Urteilen und unabhängigen Meinungsbildung an. Arendt inspiriert, polarisiert und beeindruckt.
Doch nicht nur in den Kultur- und Politikwissenschaften führt eine Auseinandersetzung mit ihrem intellektuellen Erbe zu fruchtbaren Diskussionen, auch im Literaturbetrieb hat die Textgelehrte ihre Spuren hinterlassen. Literatur und vor allem die Dichtkunst sind zeitlebens Arendts Begleiterinnen. In ihr Denken sind poetische Sprachbilder eingewoben; Gedichtzeilen ergänzen ihre theoretischen Abhandlungen und Essays. Sie verfasst Dichterporträts und unterhält freundschaftliche Beziehungen und Korrespondenzen mit Schriftstellern*innen, wobei sich der anregende Austausch in den ihr zugeeigneten Gedichten, Romanen und Essays manifestiert. So findet Ludwig Greves (1924-1991) vergleichsweise kurze Bekanntschaft mit Hannah Arendt ihren Niederschlag in dem nach ihrem Tod im Jahr 1975 entstandenen Gedicht Hannah Arendt.
Greves Gedicht bietet eine vergegenwärtigende Darstellung Arendts, geschöpft aus seinen Erinnerungen, welche durch die Niederschrift zeitlos beständig festgehalten sind und in der Nachwelt überdauern werden. Der Dichter und Essayist illustriert in neun Strophen, welch beeindruckende und nachhaltige Wirkung Arendt nicht nur auf ihn selbst, sondern auch auf andere hatte, die ihre Bekanntschaft machen durften. Ludwig Greve würdigt sie auf eine Weise, die ihren literarischen Ruhm gerade nicht miteinbezieht. Stattdessen wird sie als faszinierende Persönlichkeit dargestellt, als jüdische Emigrantin, Philosophin und Frau, welche die Neugier ihrer Mitmenschen weckte und deren Aufmerksamkeit auf sich zog. Arendt wird als Hüterin des „einmaligen Schatz[es] der großen Dichtung […], mit dem diese Sprache und keine andere gesegnet ist“ (Arendt 1975: 5) gepriesen.
Katharina Seger
Hannah Arendt
Drei, vier Stufen tastet herab, als sei da
Wasser, diese Frau von woher – das bunte
Kleid, amerikanisch, bedeutet nichts, der Stolz ist das Fremde,
so ein Zug von Wildheit um ihren Mund, wo
sah ich das? auf griechischen Münzen, unscharf
hie und da am Rand, wo die Fingerkuppen vieler Geschlechter
diesem Gott ein bißchen Gefühl beibrachten,
seiner Jugend Hinfälligkeit. Die Stimme…
solches Wetter grollen und lachen hört man selten im Alltag,
keine Sängerin, aus Gedanken holt sie
einen Klang wie die aus der Luft. Das Lächeln
grüßte mich im vollen Café – und angelehnt wie zu Pessach
teilten wir den Vorrat, das Scharfe, auch das
Süße der Verbannung, die Freiheit. Ihre
Lippen zuckten, wenn ich wie früher, um ein Mädchen zu halten,
vor Begeisterung das Verkehrte sagte,
und die Antwort hinwerfend, ohne lang zu
zielen, stand da wirklich ein Mädchen. Jeden Morgen am Schreibtisch
saß sie im Gespräch mit dem toten Lehrer,
seine Briefe ordnend, wer eintrat, solch ein
Blick empfing ihn voller Erwartung, daß sich noch der geringste
Mühe gab, sie nicht zu enttäuschen. Abends
schmeckte ihr das Essen, wenn Freunde kamen
aus der Welt, sie fand in drei Sprachen Wohnung. Aber von uns wer,
mitten im Gespräch sich nach vorne beugend,
kann noch so Gedichte hersagen, deutsche,
Wort für Wort… Sie trugen die Bürde, Hannah, nichts ging verloren.
«Amor a primera vista»: el homenaje de Ludwig Greve a Hannah Arendt
Refugiada, cosmopolita, intelectual, teórica política, estudiosa de los textos: Hannah Arendt (1906-1975), que emigró de Alemania en 1933, es una de l@s pensador@s polític@s más influyentes de la segunda mitad del siglo XX. Sus controvertidas reflexiones sobre temas centrales como la libertad humana, los orígenes de la violencia política, el antisemitismo y el totalitarismo siguen estimulándonos hoy en día en el juicio y la formación de opiniones independientes. Arendt inspira, polariza e impresiona.
Pero no sólo en los estudios culturales y políticos el análisis de su legado intelectual da lugar a fructíferos debates; la estudiosa del texto también ha dejado su huella en el mundo literario. La literatura y, sobre todo, la poesía fueron las compañeras de Arendt durante toda su vida. Imágenes poéticas del lenguaje se entretejen en su pensamiento; versos complementan sus tratados teóricos y ensayos. Escribió retratos de poetas y mantuvo relaciones amistosas y correspondencia con escritores, y el estimulante intercambio se manifiesta en los poemas, novelas y ensayos que se le dedicaron. Así, la relación amistosa comparativamente breve de Ludwig Greve (1924-1991) con Hannah Arendt se refleja en el poema Hannah Arendt, escrito tras su muerte en 1975.
El poema de Greve ofrece una representación perceptible de Arendt, extraída de sus recuerdos, que, al ser escritos, quedan grabados de forma atemporal y permanente en la posteridad. En nueve estrofas, el poeta y ensayista ilustra el impresionante y duradero impacto que Arendt tuvo no sólo en él, sino también en otros que tuvieron el privilegio de conocerla. Ludwig Greve le rinde un homenaje que precisamente no incluye su fama literaria. En cambio, se la presenta como una personalidad fascinante, una emigrante judía, filósofa y mujer que despertó la curiosidad de sus prójimos y atrajo su atención. Arendt es alabada como guardiana del «tesoro único de la gran poesía […] con el que esta lengua y ninguna otra ha sido bendecida» (Arendt 1975: 5; traducción propia).
Katharina Seger
Hannah Arendt
Drei, vier Stufen tastet herab, als sei da
Wasser, diese Frau von woher – das bunte
Kleid, amerikanisch, bedeutet nichts, der Stolz ist das Fremde,
so ein Zug von Wildheit um ihren Mund, wo
sah ich das? auf griechischen Münzen, unscharf
hie und da am Rand, wo die Fingerkuppen vieler Geschlechter
diesem Gott ein bißchen Gefühl beibrachten,
seiner Jugend Hinfälligkeit. Die Stimme…
solches Wetter grollen und lachen hört man selten im Alltag,
keine Sängerin, aus Gedanken holt sie
einen Klang wie die aus der Luft. Das Lächeln
grüßte mich im vollen Café – und angelehnt wie zu Pessach
teilten wir den Vorrat, das Scharfe, auch das
Süße der Verbannung, die Freiheit. Ihre
Lippen zuckten, wenn ich wie früher, um ein Mädchen zu halten,
vor Begeisterung das Verkehrte sagte,
und die Antwort hinwerfend, ohne lang zu
zielen, stand da wirklich ein Mädchen. Jeden Morgen am Schreibtisch
saß sie im Gespräch mit dem toten Lehrer,
seine Briefe ordnend, wer eintrat, solch ein
Blick empfing ihn voller Erwartung, daß sich noch der geringste
Mühe gab, sie nicht zu enttäuschen. Abends
schmeckte ihr das Essen, wenn Freunde kamen
aus der Welt, sie fand in drei Sprachen Wohnung. Aber von uns wer,
mitten im Gespräch sich nach vorne beugend,
kann noch so Gedichte hersagen, deutsche,
Wort für Wort… Sie trugen die Bürde, Hannah, nichts ging verloren.